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Die Nacht – Wunder im Schlamm

  • von Glenn Geffken und Julica Norouzi
  • 05 Sept., 2019

Wir liegen vollkommen erschöpft vom Graben in unseren Schlafsäcken. Notdürftig vom Matsch gereinigt. Um uns herum, ist nur die Stille der Steppe bis zum Horizont. 

Die Lichter des Wagens sehen wir erst, als er schon fast auf unserer Höhe ist. Damit haben wir unter keinen Umständen gerechnet. Ich lange nach vorne neben das Lenkrad um den großen Light-bar auf dem Dach einzuschalten. Wir rufen und winken und der Wagen kommt tatsächlich neben uns zum Stehen. Der junge Kasache hinter dem Steuer lässt die Scheibe herunter und glücklicherweise spricht er sogar englisch. Wir erklären ihm kurz unsere Situation. Auf der Rückbank des Totoyta Hilux sitzen weitere Kollegen von ihm. Ohne zu zögern sind Sie bereit, uns zu helfen. Wir atmen erleichtert auf. Doch als der Hilux im Rückwärtsgang losfahren will, drehen die Reifen durch. 

„I think i am stuck too!“ Das war nun das letzte was wir hören wollten. Der Hilux ist tatsächlich in der selben Matschsenke zum Stehen  gekommen wie wir. Die Reifen drehen wie wild durch und finden keinen Halt in diesem Schlamm. Mir wird auf einmal klar, das ich nicht die Warnblinker gesetzt habe um auf diese Gefahrenstelle aufmerksam zu machen. 

Der junge Fahrer fragt uns, wie lange wir schon feststecken. Wir müssen nun schon drei oder vier Stunden hier stehen. Es ist nun gegen 23.30 Uhr. Er blickt konzentriert in unsere Gegenrichtung. "Dort kommen drei weitere Trucks." stellt er cool fest. Wir können es nicht glauben! 


Hat der Fahrer der an uns vorbeigerauscht ist, vielleicht doch in der  Moschee Bescheid gesagt? 

Vielleicht traute er sich nicht alleine anzuhalten, um nicht auch stecken zu bleiben? Wir werden es nicht erfahren. Wir klettern aus unseren Schlafsäcken.  Wieder hinaus ins den Matsch, den Dreck und Schlamm. Unsere Hosen und Stiefel sind nur noch braune Matschlumpen.  Auf dem Rücksitz des Hilux sitzen noch drei weitere junge Männer, alles Arbeitskollegen,  die sich mal schnell an einem Freitagabend aufgemacht haben, um noch rechtzeitig zum Gebet in die siebenhundert  Kilometer entfernte Moschee Beket Ata zu fahren. Solche Entfernungen sind für uns Europäer einfach ungewohnt aber hier im neunt größten Land der Erde wohl einfach normal. Alle sprechen ausgezeichnetes Englisch, da sie – wie so viele junge Menschen in Kasachstan – in der Erdöl,- beziehungsweise Erdgasindustrie arbeiten. 

Wir sind erleichtert und wieder voller Adrenalin. Inzwischen sind auch die anderen Trucks an unserer „Absturzstelle“ eingetroffen. Zwei rustikale Pritschen LKWs russischer Bauart. Dazu ein geländegängiger Nissan Patrol, mit beeindruckender Höherlegung und aggressiven Mud Terrain Reifen als Begleitfahrzeug. 

Die ganze Kolonne erinnert mich an meinen Lieblingsfilm Mad Max Fury Road. Es wird noch besser, als die Fahrer des Pferdetransporter in kompletter, digitaler Flecktarn-Uniform vor uns stehen. Die Fahrer der Laster sind rauhe Typen, die jeden Satz mit einem Spucken in den Schlamm quittieren. Nur der Fahrer des Nissan Patrol ist ein sensibler, schmächtiger Schlacks, der sich höflich vorstellt. 

Es ist für alle selbstverständlich, dass sie uns in unserer verfahrenen Situation helfen. Das ist eine überwältigende Erfahrung. Selbstloses menschliches Handeln, haben wir auf dieser Reise so oft erfahren und mitten in der Nacht in der Steppe Kasachstans erreicht diese Menschlichkeit nun fast ihren Höhepunkt. Churchill steckt bis zum Bauch im Schlamm und alle wollen nun nur eines, ihn daraus wieder zu befreien. 


Die Kasachen waren schon immer ein Volk von Nomaden, deren Stolz ihre Pferde waren. Als die Sowjets sie zur Seßhaftigkeit zwangen, tauschten sie offenbar ihre Pferde gegen Geländewagen aus. Ein voll ausgerüsteter Geländewagen gehört hier einfach zur (männlichen) Alltagskultur dazu. Er ist Statussymbol, Arbeitstier, Freizeit- und Campingmobil und natürliches Nutzfahrzeug. Liebevoll werden Sie mit CB-Funk, Zusatzscheinwerfen, und Fahrwerken modifiziert.

Doch nichts von alldem finden wir in unserer Situation vor. Die Pferdetransporter haben für den Fall der Fälle offenbar ein leistungsstarkes Begleitfahrzeug mitgenommen, doch wie soll das nun mit diesem dünnen, ergrauten Abschleppseil klappen, das sie aus dem Kofferraum holen, frage ich mich. Noch verwunderter bin ich, das niemand eine einfache Schaufel dabei hat. 

Zum Glück habe ich vor unserer Abfahrt auf ordentliches Bergeequipment bestanden. Schäkel und Gurte sind in einer kleinen Kiste auf dem Dach verstaut und kommen nun tatsächlich zum Einsatz. Routiniert gehen die jungen Kasachen ans Werk, finden einen festen Fixpunkt an der hinteren Blattfeder, um den Schäkel zu befestigen. Der Nissan Patrol dreht auf, Schlamm spritzt, ein heftiger Ruck geht durch den Hilux. Pfiffe und Rufe. ein weiteres Mal und der Wagen ist aus dem Schlamm befreit. 

Nun gehts es daran Churchill herauszuziehen. Der Nissan Patrol fährt heran. Wir stehen in der vollkommen Dunkelheit der Steppe. Um uns herum ist das pure nichts. Nur die Scheinwerfer erleuchten die Szenerie. Schatten von Matsch, Gräsern und braunem Wasser. Die jungen Büroangestellten stehen in ihren sauberen Jeans und Sneakern neben uns im Matsch und ich frage mich, wie die das schaffen ihre Schuhe sauberzuhalten. Wir schäkern und rauchen. Mit den uniformierten Kasachen aus dem Pferdetransporter ist die Kommunikation nur mit den Händen möglich.


Es gehört auch ein gewisser Machismo zu dieser Höher – Weiter – Stärker –Kultur. Und das manifestiert sich in unserer Situation zu einem zweischneidigen, geflügelten Wort: „Dawaj, Dawaj!" 

Kein Problem ist zu groß, was nicht mit Muskelkraft und einer ordentlichen Portion Dampf, sprich: Los, los! / Dawaj/ Dawaj  zu lösen ist. 

 Wir wollen es zuerst von der Frontseite aus versuchen, dort wo sich Matsch, Schlamm und Gräser vor der Motorhaube türmen. 

Der Unterbodenschutz hat zum Glück das heftigste des Aufpralls abgefedert und die sensiblen Lenkgestänge vor Schaden bewahrt. Direkt am Unterfahrschutz sitzt eine schlanke Bergeöse.  Wir schaufeln die vorderen Reifen Stück für Stück weiter frei und dann geht es an den ersten Bergeversuch. Der Nissan Patrol schnaubt schwarze Rauchwolken aus dem Auspuff. Bergegurt und Schäkel sitzen an der Bergeöse und ich hinter dem Lenkrad. Schweiss und Matsch mischen sich auf meiner Stirn. Die Anspannung steht uns allen deutlich ins Gesicht geschrieben. Churchill startet und alle treten ein paar Schritte zur Seite. Dawaj / Dawaj  Rufe ertönen und dann geht es los. Der Nissan Patrol gibt Gas, der Motor heult auf, Schlamm spritzt und durch Churchill fährt ein gewaltiger Ruck. Es knallt. In diesem Augenblick reisst der massive Stahlschäkel aus der zierlichen Bergeöse und fliegt in schnurgerader Flugbahn dem Nissan Patrol direkt in ein Hecktürpanel. Für einen Augenblick herrscht Stille. Dies war ein wirklich unnötig gefährlicher Augenblick, vielleicht der gefährlichste Augenblick auf der gesamten Reise. Der Schäkel wiegt fast ein Kilo, einmal beschleunigt wird er zum tödlichen Geschoß für alles und jeden. Letzlich ist es nur eine tiefe Delle in der Hecktür des Nissan, doch wir alle stehen ungläubig vor der gerissen Bergeöse von Churchill. 

Wir beschliesen es doch lieber von der Heckseite aus zu probieren. Schlieslich ist der Wagen so hineingefahren, also sollte er auch auf diese Wiese herauszubekommen sein. Der Nissan fährt einen großen Bogen um unser Schlammloch und positioniert sich. Einer der tarnfarbenen Pferdetransporterfahrer hilft mir die Reifen weiter frei zu schaufeln, dann befestigen wir den Bergegurt mittig der Hecktraverse an der eigens dafür installierten robusten Berge-öse.


Der Schäkel ist eingeschraubt, der gelbe Bergegurt am Patrol befestigt und ich sitze wieder hinter dem Lenkrad von Churchill und warte auf das Go. Dawaj, dawaj ertönt es und der Patrol gibt ordentlich Gas, Schlamm spritzt, es ruckt wieder und es gibt ein häßliches Geräusch. Alle umstehend rufen Stop und ich ahne böses. Die Hecktraverse des Defenders ist eine bekannte Schwachstelle des Wagens, Wasser und Dreck können sich an dem verwinkelten Stahlträger hervorragend sammeln und bringen das nicht-verzinkte Metall gerne zum rosten und zerbröseln. So robust der Defender auch aussieht, oftmals kann man mit dem Finger die rostigen Stellen an der Hecktraverse eindrücken. Genau das ist auch hier geschehen. Die Bergeöse hat brav Ihren Dienst verrichtet,  aber der Rost hat unsere Traverse vollkommen aufgelöst. Die gewaltigen Zugkraft des Nissan Patrols hat das gesamte mittlere Stück der Traverse mit der Bergeöse einfach aus dem Träger herausgerissen.


You´d better buy a Toyota, next time! rät mir Fahrer des Hilux kopfschüttelnd.

Es hilft nichts, der nächst bessere Zurrpunkt am Wagen ist direkt am Rahmen. Ich muss mich tief in die braune Brühe legen und mit klammen Fingern den Bergegurt durch die schmalen Stellen des Trägers hindurchwinden.


Es ist mittlerweile tiefe Nacht. Zum Glück funktionieren die Aussenscheinwerfer. Es ist eine seltsame Mischung aus wiederstrebenden Gefühlen. Einerseits möchte ich nichts wie raus aus dieser Situation. Ich möchte keinen Matsch, keinen Dreck und kein Wasser mehr sehen. Ich möchte unseren Besitz und den Wagen nicht weiter gefährden. Andererseits ist dies genau die Situation, von der ich schon lange geträumt habe. I can´t believe it, but i love it. In der Schwärze der Nacht, im Matsch unter dem Wagen liegen im totalen Widerstreit mit den Elementen… Ich kann mir gerade nichts schöneres vorstellen und ich weiß das dies ein besonderer Moment ist, an den ich noch lange denken werde.


Der Kasache der im Tarnanzug neben mir im Matsch hockt denkt bestimmt dasselbe. Er spuckt dazu wortlos in die braune Brühe und endlich können wir den Bergegurt einhaken.

Falls wir hier rauskommen, werden wir auf keinen Fall weiter durch die Steppe fahren. Wir sollten so schnell es geht, zurück zur Mosche fahren. Der Patrol rückt an, gibt Gas, doch Churchill bleibt weiter hartnäckig im Schlamm stecken. Cyrils Bauchgefühl oder seine Erfahrung haben ihn heute beide Male nicht betrogen. Wir sind unbedachterweise weitergefahren und in diesem Schlam(m)assel geraten. 

Dawaj, dawaj! tönt es und wieder setzt der Patrol an. Die Kräfte die hier wirken sind ungeheuerlich. Ich hoffe das die Gurte halten. Dawaj, dawaj! und mit einem Mal bewegt sich tatsächlich etwas. Wir schreien und jubeln. Tatsächlich ist Churchill aus dem tiefsten Loch heraus. Er steckt zwar noch fest, doch mit einem weiteren energischen Zug hat der Patrol ihn herausgezogen. Jubelnd und erleichtert versammeln wir uns vor der Motorhaube. Die Telefone werden gezückt und Fotos und Selfies gemacht. 

Die Pferdetransporteure verlieren keine Zeit und springen in ihre Pritschen-LKWs. Wir stimmen uns mit den Pilgern aus dem Hilux ab und schlagen gemeinsam die Richtung der Mosche ein.

Doch nach diesem ereignisreichen Tag, mit ausserirdischer Einsamkeit, endzeitlichen Unwettern und Dämonen der Verzweifelung, haben die Götter dieser Nacht noch immer kein Einsehen. So schnell will die Steppe uns nicht ziehen lassen. In der Steppe sind die Götter Chef und wir sind hier ihrem Willen untergeordnet und das möchten Sie unbedingt weiter betonen und dieser Nacht ein weiteres Kapitel hinzufügen. 

Nachdem Churchill frei war, bemerken die Kasachen, dass nun die Pferdetransporter in den Schlamm gesunken sind. Der Patrol gibt uns auffällig Zeichen und wir fahren dicht an die Schlammstelle zurück. Nun können wir selbstloses Handeln an genau dieser Stelle wieder zurück geben. Mit der Schaufel ziehen wir in die Nacht und alle graben nun die Transporter frei. 

Die Pferde bewegen sich unruhig, die Transporter schwanken bedrohlich. Aber mit vereinten Kräften schaffen wir es tatsächlich, die Transporter frei zu graben. Unsere Schaufel überlassen wir den tapferen Pferdetransporteuren. Hoffentlich brauchen sie die Schaufel in dieser Nacht nicht mehr, denn ihr Weg ist noch über hundert Kilometer lang, durch die Steppe und das mitten in der Nacht. 

Wir sind froh, dass nun alle weiter ihren Weg ziehen können und wir fahren schnurstracks zurück zur Moschee. Doch zuerst klopfen wir uns gegenseitig auf die Schultern und in die Hände. 

Spasiba, spasiba! 

Was für eine Nacht!

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