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Die Dämmerung – Festgefahren, was nun?

  • von Glenn Geffken und Julica Norouzi
  • 04 Sept., 2019
Mitten im Nichts liegt die Moschee Beket Ata. Fast 320 Kilometer östlich von Aktau, 200 Kilometer davon auf einer asphaltierten Straße und danach geht es auf einem Sandweg weiter. Aus der Ferne sieht man gar nichts. Erst beim Erreichen erheben sich eine Vielzahl hellblau, leuchtender Zwiebelkuppen aus der Steppe.

Es ist eine willkommene Unterbrechung inmitten dieser Natur und eine beliebte Pilgerstätte für viele Gläubige der Region. Dies sei das Mekka West-Kasachstans, wird uns erklärt. Es ist Ramadan und auf dem Parkplatz herrscht geschäftiges Kommen und Gehen. Wir wundern uns über die vielen picknickenden Familien und Pilger, die uns freundlich einladen. Bedeutet Ramadan nicht, tagsüber zu fasten? 

Es gibt hier Strom und auch Wasser, das wir abfüllen und mitnehmen können. Essen wird in Grossküchen zubereitet und auf dem Gelände sind Pavillons verteilt, die Schatten spenden. Die Gläubigen dürfen nur zu bestimmten Zeiten in die Mosche. Jetzt ist gerade Mittagspause. 
Der Sufi Heilige Beket-Ata ging viele Wege, bis er nach Mangystau zurückkehrte. 1750 wurde er geboren und erlangt zu seiner Zeit Berühmtheit als Hellseher, Heiler, als Mann, der die Gesetze der Physik, Mathematik und Astronomie kennt. Nach seinem Studium in Buchara kehrt er nach Mangystau zurück und errichtet dort fünf Moscheen, darunter drei unterirdische Gebets- und Meditationsräume. Beket-Ata heilt die Menschen: Die Kranken und Bedrängten kommen zu ihm, er stellt ihre Gesundheit wieder her und gibt ihnen ein neues Leben. Seine weisen Lösungen haben die viele Probleme gelöst und viele Menschen versöhnt. In seinen Predigten fordert Beket-Ata die Menschen auf, ein rechtschaffenes Leben zu führen, fair zu sein und Gutes zu tun. Später wird diese Moschee zu einem wissenschaftlichen Zentrum, ein Observatorium unter freiem Himmel. Bereits seit zwei Jahrhunderten strömen die Pilger hierher, um Trost zu suchen und um ihre Seele zu öffnen. Man sagt, dass die bloße Erwähnung des Namens Beket-Ata im Gespräch den Kummer vertreiben und das Gebet in der Moschee Wunder wirken kann.
Noch heute ist es eine ungeschriebene Regel und Tradition für Gläubige, erst das Grab des Lehrers von Beket-Ata – Shopan-Ata – zu besuchen. Man sagt, wer diese Regel ignoriert, wird Beket-Ata nicht finden können und selbst wenn er es schafft, sie zu lokalisieren, wird sein Besuch vergebens sein.
Die Moschee ist in die Hänge eines Kalk- und Kreidefelsens gebaut, der 100 Meter über einer Senke liegt, zusammen mit einem Friedhof mit Gräbern aus dem X. bis XIX. Jahrhundert. Der Zugang zur Höhle erfolgt über eine Treppe entlang der Klippe. Der unterirdische Bauplan besteht aus sieben Räumen. Die Moschee mit ihren konkaven Wänden weist architektonische Merkmale auf, die der Form einer Jurte ähneln.
Hier treffen wir wieder auf Cyril mit seinem Motorrad. Es ist bereits Nachmittag und die Regenwolken scheinen uns noch immer zu verfolgen. Der Himmel ist diesig grau und als wir aussteigen, donnert es in der Ferne. Es regnet kurz und hört wieder auf. Der Wind treibt die Wolken vor sich her. Es ist, als könnte das Wetter sich nicht so richtig entscheiden.
Die asphaltierte Strasse endet bei der Moschee. Von hier aus wollen wir heute noch 70 km weiter zum nächsten Punkt auf unserer Karte: ein Salzsee in einem großen Canyon. Und das, obwohl sich der letzte Salzsee nicht zeigen wollte.

Die Steppe ist ein unendliches graubraunes Meer, das von Pfützen und Steppengrass überzogen ist. Der Weg, das sind verzweigte Spurrillen im Sand, unterbrochen von Pfützen. Im Rückspiegel sehen wir, wie schwer Cyril mit seiner Maschine kämpft. Er fällt immer weiter zurück. Wir halten und warten bis Cyril kopfschüttelnd mit seinem Motorrad neben uns zum Stehen kommt. Der Weg ist zu schwierig. Unmöglich ihn mit dem schwer beladenen Motorrad zu befahren.
Etwas beklommen verabschieden wir uns in dieser einsamen Weite. Cyril will zurück zur Moschee und notfalls die Nacht dort verbringen. Wenn ich an die Strenge der religiösen Ordnung auf dem Gelände zurückdenke, erscheint mir das wenig einladend. Lieber wollen wir weiter durch die Pfützen und das nasse Gras, denke ich.
Wir fahren mit guter Geschwindigkeit auf dem verzweigten Wegenetz entlang. Immer ein Blick auf das Handy, auf dem MapsMe eine blaue Linie vorgibt, der wir nur zu folgen brauchen. Wir schätzen, das wir noch gute vier bis fünf Stunden zu unserem Ziel unterwegs sein werden. Der Himmel wechselt zwischen sanfter Abendsonne und leichten Wolkenvorhängen.

Wir sind guter Dinge. Manchmal sind die Pfützen so gross und zusammenhängend, das wir abbremsen und uns lieber für das Feld neben den Spurrinnen entscheiden. Das Steppengrass und hochfliegende Steine kratzen am Unterboden. Wir sind noch nicht weit gekommen, als eine grosse Pfütze mehrere Spuren vor uns vereint und ich leicht nach Rechts, in Richtung Gras steuere.
Der Matsch und das Gras sind sehr viel schlüpfriger als ich es erwarte und mit einem Mal rutscht der Wagen unkontrolliert weiter. Es kracht. Gras, Matsch und braunes Wasser fliegen umher, zischend entweicht dem Motorenraum eine weisse Dampfwolke als der Motorblock mit dem kalten Pfützenwasser in Berührung kommt.
Wir sind unvermittelt in einer in eine tiefe Matschsenke zum Stehen gekommen. Ein Blick über die Schulter genügt, um zu wissen, dass wir in Schwierigkeiten stecken. Wasser und Matsch stehen hoch bis zu den Türen. Die Motorhaube zeigt unnatürlich in Richtung Boden. Wir stecken in echten, richtigen, riesengrossen, matschigen Schwierigkeiten!
Der Matsch steht so hoch, das es weder vor noch zurück geht. Die Untersetzung wird eingelegt und mit dem Gaspedal versuchen wir, etwas zu bewegen. Doch Nichts bewegt sich. Nur der linke, vordere Reifen sprüht eine Fontäne braunen Matschwassers bis zur Dachkante hoch. Verdammt!
Wir müssen die Fenster herunterkurbeln, um aus dem Wagen zu kommen. Die Brühe ist tiefbraun. Bis zum Kühler hoch steckt Churchill in Schlamm. Einzelne Klumpen Steppengrass und Matsch hängen aus dem Grill. Am Heck sieht es nicht besser aus: das Wasser steht hier hoch bis zur Oberkante der Felgen. Der Rahmen des Wagens sitzt auf seiner ganzen Länge am Boden auf. Wir staken mit ungelenken grossen Schritten durch den Matsch. Der saugt und quietscht unter jedem Schritt. Schon nach wenigen Schritten geben wir es auf, hier mit trockenen Socken, Schuhe oder Hosen heraus zu kommen. Das Wasser ist nicht kalt, wenigstens etwas.
An manchen Stellen sind die Spurrinnen so tief oder das Wasser so hoch, das mein halbes Bein bis zum Oberschenkel in der Brühe versinkt. Zu allem Überfluss sind alle Kriechtiere der Steppe auch von dem Unwetter überrascht und so treiben Ameisenkolonien verzweifelt und aggressiv auf dem Wasser. Ich lasse den Reifendruck weiter herunter und neben mir treibt eine fette Spinne auf der Wasseroberfläche.

Es ist zum Verzweifeln. Soweit wir gucken können ist: Nichts. Einfach Nichts. Steppe soweit das Auge reicht. Kein Baum, kein Ast, nicht mal Stromleitungen oder irgendein Hinweis auf menschliches Leben. Wir haben keine Ahnung wann hier das nächste mal ein Mensch Langfahren wird, der uns helfen könnte. Für die Gläubigen endet der asphaltierte Weg an der Moschee hinter uns. Es gibt hier keine Polizei, Feuerwehr oder gelber Automobilclub den wir rufen könnten. Abgesehen davon haben wir auch gar kein Telefonnetz. Wir sind auf uns allein gestellt.
Wir sind von der Situation noch aufgedreht und realisieren vielleicht noch nicht diese verzweifelnde Einsamkeit. Wir holen die kleine Flasche Schampus hervor, die uns Magnus und Alena für einen besonderen Moment mitgegeben haben und trinken sie im Abendlicht.
Es erscheint aussichtslos, doch nun ist es Zeit, uns selbst am Schopfe aus dem Sumpf dieser Situation zu ziehen. Ein echter Ernstfall für all die Stunden und Monate an Vorbereitung, lesen und konsumieren von YouTube-Tutorials über die Bergung von Autos im Offroadbereich.

Ich schnalle die knallroten Traktions Bretter aus Plastik vom Dachträger. Der Spaten, der bislang nur als Deko über dem Fahrerfenster hing, wird eingeweiht und wir beginnen zu graben. Der Schlamm ist zäh und pampig, aber immer noch flüssig genug, um immer wieder in die gerade ausgehobenen Löcher zurückzufliessen. Julica bemerkt eine Fliessrichtung des Wassers von der linken auf die rechte Seite. Das Feld scheint hier tiefer zu sein und in einer nahen Kuhle zeugen ein paar Büsche und Schilf davon, dass sich hier regelmässig Wasser sammelt. Wir beginnen eine Drainage zu graben. Unseren Spatenhüben folgt das Wasser und wir freuen uns wie kleine Kinder, die im Matsch spielen.
Immer wieder mustern wir den Horizont in der Hoffnung, dass doch noch ein Auto auftaucht. Am Wagen bewegt sich nichts. Der Schlamm ist zu tief. Mit unserem Graben verhindern wir aber, dass der Wagen immer weiter einsinkt. Nach einer Stunde steht das Wasser nur noch bei der Hälfte der hinteren Felge. In diesen kleinen Erfolg mischen sich auf einmal die Lichter eines Wagens der am Horizont vor uns auftaucht. Wir können es nicht glauben! In all dieser Einöde kommt doch tatsächlich noch jemand hier entlang. Es ist wie ein Wunder! Wir verlieren keine Zeit. ich springe auf den Dachträger und und hole Abschleppseil und Schäkel aus der Dachkiste. Erwartungsvoll platziere ich beides vor dem Wagen. Der Retter in spe fährt einen Toyota Hilux in der Pick Up Version. Leistungsstark und robust genug ist der Wagen auf jeden Fall, um und hier herauszuziehen. Gelöst winke ich dem Fahrer entgegen. Dieser winkt kurz zurück und gibt brav weiter Gas, um an uns vorbeizufahren. Ungläubig stehen wir neben unserem matsch-bedeckten Wagen. Sieht das hier aus als würden wir das zum Spass machen? Sieht der Idiot nicht, dass wir uns in einer Not-Situation befinden? Wir rufen und winken, laufen in unserer Verzweiflung dem Wagen hinterher, bis die roten Hecklichter verschwunden sind. Was für ein Idiot!
Langsam kommen wir in unsere Situation zurück. Wir graben weiter. Wir versuchen die Traktions-Bretter unter die Vorderräder zu schieben, doch die Reifen drehen immer wieder durch, schiessen Fontänen von Matsch hoch. Das Profil der Reifen findet keinen Halt. Wir spüren langsam die Erschöpfung in unseren Muskeln, aber all die Anstrengung ist besser als nichts zutun. Wir wollen unsere Hilflosigkeit nicht spüren. Ich klettere wieder auf den Dachträger und will in einem letzten Versuch mit dem Hi-Lift Wagenheber versuchen, den Wagen anzuheben. Die Basis des Wagenhebers verschwindet sofort im Matsch und findet keinen Halt. Erst mit einem Stück Blech gelingt es uns, einen festen Grund zu improvisieren und damit die vordere Stossstange anzuheben. Jeder Hub mit dem Hi- Lift lässt mich und den Wagen von dem schieren Gewicht und der Anstrengung zittern. Wir bekommen den Wagen ein paar Zentimeter angehoben, doch es reicht einfach nicht. Und selbst mit dem gewonnen Platz finden die Traktionsbretter immer noch keinen Grip.
Es dämmert und wir sollten aufhören. Unsere Kleidung ist vollständig durchsogen von Wasser und Matsch. Hände, Arme, Gesicht und Haare alles ist verdreckt und verklebt. Es dauert über eine halbe stunde bis wir uns notdürftig gereinigt haben und in das innere von Churchill klettern zu können.
Vollkommen erschöpft ziehen wir den Zipper der Schlafsäcke hoch und wollen diesen Tag für beendet erklären. Vielleicht wachen wir ja morgen früh auf und das alles war nur ein sehr intensiver Traum? In diese Gedanken blitzen auf einmal zwei Lichtpunkte am Horizont auf. Wir müssen bereits träumen, oder?

Wir können es kaum glauben. Der Wagen kommt tatsächlich schnell näher. Wir winken und rufen. Der Wagen kommt neben uns zum stehen. Uns dämmert das dieser Tag noch lange nicht zu Ende ist.
Wie es weitergeht, erfährst Du hier...
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