Bosnien Herzegowina 

  • von Glenn Geffken und Julica Norouzi
  • 05 Apr., 2019

Ein Land wird uns noch lange beschäftigen

Wir fahren nicht nach Budapest. Unser Weg führt uns am Balaton, dem größten See Ungarns, entlang. Fischer lassen ihr Boot zu Wasser.
Die Wellen des Balaton haben ihren eigenen Rhythmus. Das ist der Herzschlag des Balaton. 
Hohes Schilf säumt das Wasser. Der Himmel ist grau.

46°42′36.36″N 17°17′04.88″E
Am Abend bleiben wir auf einem Feld in Ungarn. Der Morgen erhebt sich strahlend über die Felder. Noch am  Vormittag erreichen wir die kleine Grenze zu Bosnien in der Nähe von Zupanja. Entlang der Hauptstrasse, die durch das Tal führt, zieht sich eine endlose Abfolge aus Tankstellen, halbfertigen dreistöckigen Häusern und Bauruinen. Alle Meter gibt es Tankstellen und Waschanlagen für Autos. Es ist herb und stellenweise sehr dreckig. Alle VW Jettas der neunziger Jahre fahren mittlerweile in Bosnien. Wir winden uns die Hügel an den Rändern der Ebene hinauf. 
Es wird bergiger, steiler und ursprünglicher. Die Menschen stehen an Ihren Gartenzäunen und starren uns an: manchmal ungläubig, dann wieder interessiert oder einfach teilnahmslos. Wir gewöhnen uns daran, immer zu Winken, wenn jemand am Strassenrand schaut und siehe da, die Mimiken lösen sich und es entfalten sich heitere Lächeln. Ältere Frauen mit Kopftuch winken mit beiden erhobenen Armen über windschiefe Lattenzäune. Als der asphaltierte Weg endet, legen wir den Allrad ein und schieben uns einen steinigen Waldweg bergabwärts. Die Bäume stehen dicht an dicht, grösstenteils sind sie noch kahl.
In der Ebene zieht sich in der Ferne die Hauptstrasse dahin. Die Dämmerung lässt die Hügel leuchten. Lichter scheinen von unzähligen Häusern und Siedlungen, die and den Hängen kleben. Dunst steigt zwischen den Hügeln auf. Die Minarette zeichnen sich ab in den Abendhimmel. Wir gelangen an einen steilen Hain aus Obstbäumen, kleinen Feldern und Wiesen für Schafe.

 44°44′01.31″N 18°30′19.48″E
Der Blick über die Ebene ist hinreissend. Die Dunkelheit legt sich über den Hain und mit dem Knistern der Lautsprecher, ertönen die Rufe der Muezzine. Kleine, silberne Rauchsäulen steigen auf, wo Müll und Laub verbrannt wird. Die Luft riecht herb. Zum ersten Mal kochen wir mit unserem Gaskocher Wasser auf und stehen nackt in der Dunkelheit um zu „duschen“. Dies bedeutet in unserem Fall, sich mit einem Topf heißen Wasser, zu übergießen. Frierend, zugleich aber auch erfrischt, waschen wir uns den Staub des Tages von der Haut.
Wir haben noch frisches Brot und Käse aus Wien dabei. Die Standheizung brummt und in der Nacht fällt das Thermometer weiter auf vier Grad. Nachts noch einmal aus dem Schlafsack herauszukrabbeln ist mühselig, wird aber immer mit einem tiefblauen, leuchtendem Sternenhimmel belohnt. Venus, der Gürtel des Orion und der große Bär leuchten hell.
„Ursprünglich“ ist auch dieser Blick nicht mehr. Nachts, allein in Kälte und Dunkelheit, pinkelnd an einem Abhang, bekommen wir ein Gefühl davon, wie das Leben für Menschen lange vor unserer Zeit gewesen sein könnte. Und wie es nie wieder sein wird. Es gäbe keine Lichter an den Hängen, die Dunkelheit wäre vollkommen. Die Nacht wäre nur erhellt durch den Lauf des Mondes und der Sterne. Es gäbe keine wärmende Heizung, kein fließendes Wasser, keine Steuererklärungen oder Prepaid-Tarife. Es wäre eine Zeit ohne Bilder.

Wir könnten nur sehen, was uns wirklich umgibt. Die Natur in ihren jahreszeitlichen Veränderungen; diejenigen, die mit uns leben. Nur die unmittelbare Betrachtung der nahen Umgebung wäre möglich. Der Sternenhimmel als leuchtendes Spektakel in einem entbehrungsreichem Alltag, Unterhaltung und Orakel zugleich.

Eine Zeit ohne Bilder. Eine Zeit, die unvorstellbar weit weg ist. Bilder sind zu unserer zweiten Natur geworden. Wir bewegen uns durch einen Dschungel aus Zeichen, Symbolen und Ikonen. Manchmal selbstsicher und traumwandlerisch, manchmal irritiert und plump erbost oder einfach verirrt im Dickicht immer neuen Blüten, die von unserer Kultur hervorgebracht werden. Vielleicht hat uns diese Sehnsucht nach einer Stille der Bilder angetrieben, auf diese Reise zu gehen. In den fernen Osten, wovon wir nur eine vage Ahnung und vielleicht ein paar Vorurteile haben. Wieder setzt der Gesang der Muezzine über Lautsprecher ein. Ist das, was dort mitten in der Nacht klingt, wohl eine Aufnahme?
Oder singt da wer?

Der Himmel über uns hat sich, seit dem die Griechen die ersten zwölf astronmischen Tierkreiszeichen festlegten, weitergedreht.  Auf der Homepage der Astronomischen Gilde werden rund achtundachtzig Sternzeichen geführt, etwas willkürlich wie es scheint, unter anderem der„Chemische Ofen“ oder die „Nördliche Wasserschlange“.
Sternenhimmel 0 Grad
Schnee liegt auf den Bergspitzen, wunderschön

43°30′25.57″N 18°42′43.68″E

Die Schlafsäcke, gegen die sich Julica noch am Anfang so energisch gesträubt hat, hat auch sie mittlerweile sehr liebgewonnen. Sie schützen wunderbar vor der Kälte der Nacht. Am Morgen wird es Ritual, den ersten Kaffee eingekuschelt im Schlafsack, liegend zu trinken. Langsam in den Tag zu starten und bestaunen, wie sich der dunkle Stellplatz der Nacht, zu einem Weg mit Feldern und Zäunen gewandelt hat. Zu einer von Menschen kultivierten Landschaft. In Form gebrachte Natur.
Archaische Themen drängen sich in unsere Gespräche, während wir abwechselnd fahren.
Wie kam das Feuer zu den Menschen? Wie Metall, Ackerbau oder die ersten Haustiere? Wie wurde wohl das Erz entdeckt?
Blieb es nach einem Feuer vielleicht als unförmiger Klumpen in der Asche liegen?

Unsere täglichen Themen auf dieser Reise: einen sicheren Schlafplatz finden, genügend Wasser und Nahrung dabei zu haben, waren auch die Herausforderungen der Menschen damals. Wie sehr Kultur und Kulturtechniken unser Leben vereinfacht haben und wie unendlich mühselig und hart ein Leben ohne Zivilisation sein kann, diese Erkenntnis spüren wir nun in in vielen Momenten, besonders dann, wenn wir die kalten Füße an der herrlichen Standheizung ausstrecken.
Als große Inspiration für diese Reise steht das bewegte Leben von Julicas Nenn-Großmutter Milli Bau. Sie reiste, allein als Frau in einem VW Bulli durch den nahen Osten, die Seidenstrasse entlang bis nach Peking. Insgesamt 5 Jahre verbrachte sie in ihrem rollenden Haus.

In ihren Reiseberichten und Textminiaturen berichtet sie unglaublich dicht und ergreifend von ihrer Reise. Als flöge sie mit Ihrem Raumschiff durch ferne Galaxien und nehme dort Kontakt mit anderen Wesen auf. 
So ähnlich und doch so unvergleichbar reisen wir durch die Zeit. Wir navigieren mit GPS und können uns geschichtsträchtige Beiträge im Internet über Göbekli Tepe, das Orakel von Delphi oder Troja anlesen. Vielleicht wird manches dadurch sichtbarer, vielleicht verstellt dieses Wissen aber auch unseren Blick? Milli konnte vieles bestaunen und erleben, das in unserer Zeit nicht mehr sichtbar ist. Karten und Wegweiser in ihr nicht bekannten Sprachen brachten sie über viele Umwege doch ans Ziel.

Manchmal geht es uns ähnlich, wenn unser GPS die kleinsten Straßen aussucht und oftmals finden wir uns auf kilometerlangen Feldwegen oder steinigen Bergpfaden wieder, obwohl wir doch eigentlich nur den kürzesten Weg in die nächsten Stadt eingegeben haben. So erleben wir oft unverhofft mehr. Und Churchills Differential jauchzt glücklich, wenn er  einen Abhang hinunter- oder hinaufkriechen kann.

Dabei streifen wir viele Schicksale im vorbeifahren. Was wird aus den beiden streunenden Hunden am Strassenrand? Wie sieht das Leben des Obsthändlers in zehn Jahren aus? Was macht der alte Mann mitten im Nirgendwo an einer Autobahnauffahrt?
Bosnien macht uns nachdenklich, manchmal traurig und oftmals staunen wir einfach nur:  Über die spektakuläre Bergwelt, den Tunnel, der wie eine Tropfsteinhöhle aussieht und wie mit der Hand in den Berg gehöhlt scheint. Wie pittoresk die Dörfer auf dem Land im krassen Kontrast zu heruntergewirtschafteten, tristen, grauen, lieblosen Kleinstädten sind. Oftmals sind die Friedhöfe größer als die Dörfer. Man kann sehen, wie groß Verlust sein kann und nur erahnen, welche Wunden Kriege reißen.
In Sarajevo sind die Bosniaken chic wie Italiener. Global weltgewandt. Im Kulturzentrum Tito sind schicke, bohemehafte Leute. Tito hat Bosinen für einen kurzen Moment Unabhängigkeit geschenkt, bevor er zum Diktator Jugoslawiens wurde. Vielleicht kann ein gewisser Lifestyle das Fehlende, das Verlorene kompensieren? Alle sind sehr nett und helfen. Die Jungen sprechen alle sehr gut Englisch. Of Course. Wir sehen etwas abgerissen aus neben all den schicken Menschen. 5 GB für 3 Euro. Ein echtes Stadtzentrum finden wir nicht. Die Stadt ist wie einzige Shopping Mall. Mall reiht sich an Mall.
Einschusslöcher neben Investorenarchitektur. Weite Hochebenen neben steilem Gebirge.
Minenwarnschilder neben spektakulären Naturdenkmälern.
Dieses Land wird uns noch einige Zeit beschäftigen.
Wie die Reise weitergeht, erfährst Du hier...