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Das Geisterschiff oder Wer reist mit Professor Gül?

  • von Julica Norouzi
  • 31 Aug., 2019
Von Aserbaidschan aus wollen wir die mysteriöse Fähre nach Kasachstan nehmen. Niemand weiss ob sie fährt, wann sie fährt und schon gar niemand weiss, wann sie wirklich ablegt. Es ist keine Touristenfähre, sondern mit ihr sollen Trucks und schwere Waren über das Kaspische Meer transportiert werden, so erzählt man sich. Drei Tage soll die Fahrt von Baku nach Aktau dauern, manche sagen, dass es auch schon mal eine Woche gedauert hat, abhängig von Seegang, Wind und anderen Widrigkeiten. Im Internet gibt es weder Fahrpläne noch Webseiten der Fährgesellschaften, nur in einigen Overlander-Foren finden wir verstreute Telefonnummern, die anscheinend einen direkten Kontakt zum Fährbüro herstellen sollen. Niemand hebt am anderen Ende der Leitung ab.

Irgendwo südlich von Baku soll es einen Cargo-Fährhafen geben, wo diese besagte Fähre losfahren soll. Doch auch diesen Ort kennt keiner so genau. Es ist, als ob es diese Fähre gar nicht wirklich gebe. Wer kann es wissen? Ein Geisterschiff?
In unsere Überlegungen mischen sich nun neue Gedanken. Was wäre wenn es diese Fähre gar nicht gibt und wir vielleicht doch das Kaspische Meer umrunden müssen? Doch auch hier ranken sich haarsträubende Legenden von großen, blonden Männern und Bären aus Dagestan, die keinen Spass verstünden und deren Herrschaftsgebiet wir dann durchfahren müssten. Auch wenn wir weder Sorge vor Bären noch vor anderen Menschen haben, versuchen wir nun zuerst diese seltsame Fähre ausfindig zu machen. Es kann doch nicht verhext sein. Oder doch?
Von Baku aus, wo wir zwei sehr entspannte Tage in einem kleinen Apartment verbringen, in Ruhe Wäsche waschen, den Komfort von fester Behausung geniessen und diese lichterfunkelnde, von Aufbruch atmende Stadt erleben, geht es los. Das Essen war gut und wir haben einen Teppich bei einem sehr netten und redefreudigen jungen Aseri gekauft. Dieser Teppich soll uns nun fortan begleiten und ein Gefühl von Wohnraum – draussen in freier Natur – schaffen. So wie es die Nomaden auch tun, deren Gebiete wir nun auf der anderen Seite des Kaspischen Meeres bald entdecken wollen. Teppiche ausrollen und sich unter dem Sternenhimmel zu Hause fühlen. 
In einem kleinen dunklen Laden mitten in der Altstadt von Baku ist Abbas der Herrscher über tausend und einen Teppich. In vielen Schichten liegen die textilen Antiquitäten übereinander und nebeneinander. Es duftet nach Tee und Keller. Abbas ist sportlich gekleidet, so alt wie wir und so gar nicht Tausend-und-eine-Nacht.

Sein perfektes British English und seine offene Art machen gute Laune und als er hört, das wir auch Defender fahren so wie er und von Berlin hier nach Baku gefahren seien, lädt uns ins Teehaus gegenüber ein und erzählt uns tausend und eine Geschichte vom Leben in Aserbaidschan zwischen Tradition und Moderne und wie er seinen eigenen Weg darin findet.
Abbas hat nicht nur in London und Amsterdam studiert, sondern hatte auch eine schottische Freundin, die ihn immerzu fragte, wo er sei und was er gerade mache, das war er nicht gewohnt und ihm schon gar nicht ganz geheuer. Nun ist er verheiratet mit einer Aserbaidschanerin, die nach alter Sitte, von seiner Mutter für ihn ausgesucht wurde. Nach einigen Treffen und einiger Sympathie wurden sie einander versprochen und seine Mutter schulte die neue Frau mehrere Monate lang und unterrichtete sie wie sie den geliebten Sohn/Ehemann nun zu versorgen hat.

Für uns West-Europäer wäre eine solche Ehe heute kaum mehr denkbar, in Aserbaidschan ist es anscheinend auch heute noch ganz normal. Nun haben die beiden zwei Kinder und leben ihr Leben sehr praktisch zusammen aneinander vorbei. Er sei zufrieden, die Geschäfte laufen gut, die Kinder gedeihen prächtig und seine Ehefrau würde ihn nicht nerven.

Was will man mehr? 
Nach vielen Tassen Tee und vielen Geschichten steigen wir wieder in seinen Kellerladen hinab und ein bunter großer Teppich findet uns als seine neuen Besitzer. Die alten Besitzer stammen vom Land und der Teppich wurde über viele Generationen hinweg vererbt. Geknüpft wurde er in den 1940er Jahren auf den Hügeln vor Baku und jedes Knüpfmuster erzählt die Geschichte einer bestimmen Region und ihrer Menschen. Uns soll er von nun an begleiten. Von der Fähre hat Abbas schon mal gehört, aber auch er kennt weder die Abfahrtszeiten noch den genauen Ort. Irgendwo bei Alat sei dieser Hafen, wir würden ihn schon finden. Inshallah und Good Bye! 
Nun wird es Zeit für die Suche nach diesem sagenumwobenen Ort. Wir fahren Richtung Süden, in die Nähe von Alat, einem kleinen Küstenstädtchen südlich von Baku. Zuvor kommen wir noch an einem aserbaidschanischen Touristen-Muss vorbei: In den nahegelegenen Hügeln sollen kleine Vulkane Matsch blubbernd an die Erdoberfläche befördern. Wir folgen den Schildern und tatsächlich kommen wir in einer Mondlandschaft zum Stehen, wo sich einige Touristen mit alten Ladas hintransportierten haben lassen. 
Kleine Krater liegen in der Mondlandschaft vor uns. Es ist als ob, die Erde lieblich blubbernden Matsch pupsen würde. Hübsch anzusehen und es fühlt sich ziemlich lustig an, der Erde den Finger in den Popo zu stecken. 
Die Koordinaten des Hafens, die wir in einem Overland-Forum gefunden haben, stimmen natürlich nicht und wir fragen uns händeringend durch. Irgendwann finden wir jemanden, der weiss, welche Abbiegung es sei. Seine Weg stimmt. Tatsächlich finden wir in einer Steppenlandschaft direkt am Meer den legendären Fährhafen. Es ist Nachmittag und zwei deutsche Radler campieren direkt vor den Buden der Fährgesellschaft, dort warten sie wohl schon seit einigen Tagen in lethargischer Gelassenheit. Doch unsere Sympathie hält sich in Grenzen. Noch ein anderer Europäer trudelt ein. Cyril, ein freundlicher Motorradfahrer aus Aix-en-Provence mit seiner schweren KTM Maschine, mit der er bis auf den Pamir Highway nach Tadschikistan will. Ihn schliessen wir recht schnell in unser Herz und wir sind froh, gemeinsam an diesem unwirklich unwirtlichen Ort zu warten. Und zu warten und zu warten.

Es gibt Gerüchte, das tatsächlich noch heute Nacht ein Schiff mit dem schönen Namen – Professor Gül – in See sticht.  Wir fragen uns durch und nach einigem Papierkrieg haben wir unglaublicher Weise einen Platz auf diesem Schiff.  Ob es wirklich los geht, steht allerdings in den Sterne. Sobald man eingecheckt ist, darf man das Fährgelände nicht mehr verlassen. Zum Glück versorgt uns ein kleiner Lebensmittelladen mit dem Nötigsten. Mit uns reisen viele sehr freundliche Trucker, die es gewohnt sind zu warten und zu warten. Auf dem Container-Klo hat jemand geschrieben: "Eight days prison of alat". Das lässt hoffen. 
Wir werden von Terminal zu Terminal geschickt, der Papierkrieg nimmt kein Ende. Alles wirkt etwas wie absurdes Theaterstück, dessen Protagonisten wir unwissentlich geworden sind. Dann dringen Gerüchte durch, dass die Fähre wirklich heute nacht noch in See stechen soll. Es ist inzwischen 22 Uhr und noch tut sich gar nichts. Vielleicht liegt es am kalten Nebel, der gespenstisch über der ganzen Szenerie hängt, vielleicht am Seegang, keiner weiss es so genau. Wir ruhen uns kurz im Wagen aus, aber die Aufregung, wann es nun losgeht und an welchen Terminal wir müssen, lässt uns nicht los. Der Nebel wird immer dichter und dichter. Undurchdringlich dumpf scheinen alle Lichter. Es ist, als ob sich etwas kaltes, düsteres über uns legt.
Gegen 24 Uhr wird es unruhig und anscheinend ist die Fähre nun wirklich eingelaufen und wird nun entladen. Nach etlichem Hin- und Her stehen wir tatsächlich am richtigen Terminal und können es kaum glauben, dass es nun wirklich losgehen soll. 

Gegen 2 Uhr fahren wir zusammen mit gefühlten 60 Trucks, einem Motorrad und zwei Fahrrädern auf Professor Gül und just in dem Moment als wir unseren Stellplatz erreichen, fängt es im Motorraum von Churchill an zu rauchen. Nach kurzer Prognose wird schnell klar, der Anlasser ist durchgeschmort. Irgendwo muss es einen Kurzschluss in unserem System geben. Oder was ist da los? 
Die Fähre ist alt und der Komfort gewöhnungsbedürftig. Es ist sicher nicht die MS Europa, auf der Milli reiste, oder ein Aida Schiff, das war uns schon vorher klar. Dreckige Matratzen, mieses Essen und versiffte Sanitär-Räume waren schon hart genug, aber Ameisen im Bett hatte ich nicht erwartet. Wir sehnten uns nach Churchills Gemütlichkeit und richten uns mit kleinem Gas-Kocher (das hätte der russischen Board Matrone, die uns die dreckigen Decken hinknallte, nicht gefallen)  und einigen Lebensmitteln in unserer engen Kabine ein und ergeben uns unserem Schicksal. Wie lange es dauern wird? Wir wissen es nicht.

Meine Laune sinkt minütlich und innerhalb von Stunden habe ich eine ziemlich große Krise. Irgendwie versuche ich mich mit Schlafsack und Laken vor den Ameisen zu schützen. Aber es hilft nichts, die Enge der Kabine und all der Dreck sind mir einfach zu viel. Und dann auch noch das dümmliche Geplapper der deutschen Radfahrer. Langsam frage ich mich, was wir hier eigentlich machen und ob dieser ganze Trip vielleicht einfach nur ein großes Missverständnis ist. Ich zweifle an allem und vor allem an mir selbst. Ich will nach Hause in ein sauberes Bett, weg von all dem Durcheinander und Chaos um mich herum und in mir drin – einfach nur weg. Weit weg von diesem dreckigen Schiff und der groben Besatzung. Warum bringen mich solche Kleinigkeiten total aus der Fassung? Alles dunkle und düstere aus meinem eigenen Schattenreich belagert mich auf ein Mal, es fühlt sich an, als ob ich nicht ganz bei Sinnen wäre. 
Was ist hier eigentlich los?
Und nun kommt es so, wie es sich die Reise eben für uns ausgedacht hat: Beim Essen kommen wir mit  einigen Truckern in Kontakt und mit wenig Sprache sind alle sehr freundlich und hilfsbereit zu uns. Aseris, Kasachen, Türken, Rumänen, Russen.  Die Herren mit den großen Trucks stammen aus allen Ländern rund ums Kaspische Meer, haben 10-mal so viele Stempel wie wir in ihren Reisepässen und helfen uns wo sie können. Man trifft sich beim rauchen, es werden Lebensmittel geteilt und jeder erzählt soviel er eben kann. Es rührt mich ganz besonders, dass wir immer noch Nachrichten per WhatsApp von einigen erhalten. Die meisten von ihnen sehen ihre Familien oft wochenlang nicht und fahren jeden Tag viele Stunden allein mit ihren Trucks über unendlich weite Pisten. Nur Erde und Himmel um sich, da ist es für viele von Ihnen eine willkommene Abwechslung, mal gemeinsam mit Kollegen auf eine Schiff zu sein, wo dreimal am Tag "Kuchet!" (russ. "Essen!") gerufen wird und man einfach mal vor der Glotze abhängen kann. In der Männer-Kita im Aufenthaltsraum laufen ununterbrochen russische Serien über den zweiten Weltkrieg. Für mich eher gewöhnungsbedürftig. Ich bleibe im Bett bei den Ameisen. 
Der Nebel lichtet sich und mit ihm meine Stimmung. Irgendwie gehen zwei Tage Seefahrt tatsächlich vorbei und wir legen wirklich in Kasachstan an. Vielleicht ist es das nahende Land oder die würzige Luft. Die freundlichen Trucker helfen uns, Churchill mit seinem kaputten Anlasser anzuschieben und wir rollen von Bord des Professor Gül. Wir sind in Kasachstan und können es kaum glauben. Wir haben tatsächlich das Kaspische Meer überquert!

Doch es mischen sich seltsame Gefühle: Aufregung, etwas Angst vor dem Neuen, Unbekannten und Erleichterung, das wir es wirklich geschafft haben. Meine komische Stimmung der letzten Tage, die sich langsam mit der würzigen Luft auflöst. Und doch ist da was, etwas dunkles, dumpfes, altes, ein Atemhauch, kaum wahrnehmbar. Was ist es nur, das auf Professor Gül mitgereist ist? 

Die Farben ändern sich und das Kaspische Meer schimmert matt türkis, die sandfarbene Erde ist flach. Unendliche Weite, Steppegras so weit das Auge reicht und ein sanft grauverhangener Himmel begrüßen uns. 

Seltsamerweise fühlt es sich auf einmal an, als würden wir ankommen, dort wo es uns schon immer hingezogen hat. Ein würziger Duft nach Wermut weht uns entgegen und mit diesem Duft wird schnell klar, das hier die Grenze zwischen irdischer und geistiger Welt sehr dünn ist und alle Energien zwischen Himmel und Erde auf ihre eigene Weise fliessen. Man kann hier gleichsam den Herzschlag der kasachischen Erde fühlen, es ist als ob das Herz Kasachstans direkt unter uns pulsiert und der Wind sein Atem ist. Alle Menschen die wir nun treffen, Grenzbeamte, Versicherungsverkäufer, Ladenbesitzerinnen haben schöne mongolische Züge und eine freundliche Art uns willkommen zu heissen. Es ist, als ob wir ankommen in einer anderen Realität, weit weg von allem gewohnten und doch so seltsam vertraut. 

Welcome to Kazakhstan!
Wie es weitergeht, erfährst Du hier... 
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